Hans-Günter Brodmanns "Musica sacra"

Diese sieben Stücke sind kompromisslos, manchmal fast verstörend in ihrer Konsequenz.
Jedes Stück hält beharrlich an jeweils einem Grundgedanken fest und führt ihn bis zum Extrem.
Ein hypnotisch einfacher Rhythmus läuft zu einer Marimba-Melodie minutenlang fast gleichbleibend durch.
Über dem gleichmäßigen Zirpen von Zikaden schwillt das Rauschen eines Gongs immer stärker an.
Ein andermal pulst ein tiefes Pochen wie ein beschleunigter Herzschlag leise im Hintergrund los, wird nervöser,
gerät ins Stocken, sucht und findet immer wieder den Ausgangsrhythmus, wird nach und nach von Geräuschen
überlagert: Regenprassel, sich entladendes Gewitter, eine in den Bahnhof einfahrende U-Bahn, das Einstimmen
eines Orchesters, Schlussakkord eines Konzerts, Applaus, Korkenschnalzen, ein Weinglas, das gefüllt wird - bis
am Ende nur wieder das bereits vertraut gewordene Pochen zu hören ist und langsam ausklingt.

 

Sieben Stücke?

 

Vielleicht auch: sieben Szenen eines imaginären Films, in dem der Hörer die Hauptrolle spielt.
Ausgerechnet eine Reise in die Toskana inspirierte Hans-Günter Brodmann zu dieser CD.
Mit einem Aufnahmegerät hielt er Hör-Eindrücke aus der Natur fest und war gebannt vom archaischen Erleben der Geräusche.
"Es war wie eine plötzliche Selbst-Erkenntnis. Und nach vielen Jahren, in denen ich Musik spielte, die mit mir oftmals eigentlich nichts zu tun hatte, wollte ich diese Eindrücke mit meiner Arbeit als Schlagzeuger in Einklang bringen" sagt Brodmann.
Das gibt auch Aufschluss über den Titel "Musica sacra" (geistliche Musik): eine Musik, in der das Ich als Teil einer
höheren Ordnung reflektiert wird (wie immer man diese höhere Ordnung benennen mag).

 

Je länger man diese Aufnahmen hört, desto mehr fügen sich die sieben Stücke zu einem einzigen zusammen: Der imaginäre Film beginnt mit abstrakten Stimmungen, erhält in der Mitte durch genau definierbare Geräusche konkrete
Bilder und kehrt am Ende wieder zum Abstrakten, rein Stimmungshaften zurück.

Was die musikalische Struktur betrifft, passiert dabei genau das Umgekehrte: Ganz am Anfang existiert ein fester Rhythmus, und ganz am Ende wird wieder einer etabliert; dazwischen jedoch Auflösung in Fragmentarisches, zerflie-
ßende Struktur, Dominanz von scheinbar zufällig Geräuschhaftem über traditionell organisiertem Klang.
Diese Musik folgt einem strengen, klaren und zielgerichteten Aufbau.

 

"Auf eine Reise" - nicht in die Toskana, sondern nach innen - will Brodmann den Hörer schicken.

 

Die Einzeltitel der Teilstücke kann man als Stationen begreifen: The Preacher, Respect, Turmalin, Earth, Eternity,
The Sceptic, Audience and Reconciliation.

Eine vorsichtige Annäherung beschreibt die Musik: an Fremdes, Erhabenes, Schönes, an die greifbare, riech-,
schmeck-, sicht-, und hörbare Welt und an das nicht mit Sinnen Erfassbare (die zeitliche und räumliche Unendlichkeit);
und sie beschreibt schließlich die Auseinandersetzung damit; den Zweifel und die Versöhnung, das Zur-Ruhe-Finden.

Das Ich und das höhere Prinzip - musica sacra.

 

Mit modischer Esoterik und säuselnder Natur-Romantik, einer musikalischen Hausapotheke für eilige Sinnsucher, hat Brodmanns vorliegende CD jedoch nichts zu tun. Dafür ist sie zu radikal: Sie fordert vom Hörer mehr als bloß ein
schnelles Ohr und oberflächliche Einstimmung; der Berieselung oder bequemen Erbauung verweigert sie sich.
Dies nicht zuletzt weil sie in ihrem Aufbau von den herkömmlichen dramaturgischen Gesetzen der westlichen Musik abweicht - wie das zum Beispiel auch John Cage mit seinem unter zen-buddhistischen Einfluss entstandenen ersten Streichquartett tat: der Höhepunkt des Werks ist das leiseste Stück, das von gängigen Hörgewohnheiten auch am
weitesten entfernt ist.

 

Auf diese Weise ist Brodmanns "Musica sacra" eine Musik geworden, die dem Hörer die Annäherung ganz selbst
überlässt. "Respect", der Titel des zweiten Teilstücks, trifft somit auch die Haltung des Musikers gegenüber seinem Publikum.

 

Roland Spiegel